Italiens wilde Schönheit

Tag 36 – Freitag, 28. Juli:

Es war eine sehr komfortable Zeltnacht in Zwischbergen (Berggasthaus Bord).

Direkt nach dem Aufstehen entdeckt Lady C. im gegenüberliegenden Wald zu ihrer großen Freude ein Reh.

Am Ende des Zwischbergentals wartet der Passo Andolla (2418 Hm) auf uns. Immer wieder bin ich vom Trockenmauerbau fasziniert. Wie lange so eine Mauer doch hält.

Das Zwischbergental war im Herbst 2000 heftigst überschwemmt, weil Murgänge den  Flussverlauf eingeengt und gestoppt haben mit katastrophalen Auswirkungen.

Wir erreichen das Ende des Tals und sehen die Berge der schweiz-italienischen Grenze.

Rückblick ins Zwischbergental nachdem wir schon einiges an Höhenmetern in wegarmen Gelände hinter uns haben.

Noch erkennen wir den Passo Andolla nicht, aber irgendwo muss es drüber gehen.

Wie aus dem Nichts erscheint eine junge Amerikanerin am Passo Andolla. Sie jobbt sich durch Europa und bewacht derzeit bei einem Schäfer nachts die Schafe vor evtl. beutesuchenden Wölfen. Bisher hat sie leider keine angetroffen, sagt sie.

Beim Abstieg vom Pass entdecken wir einen alten Bekannten aus 2019, den Lago dei Cavalli im oberen Val Antrona.

Der Unterschied zwischen den Bergpfaden in der Schweiz und Italien ist krass. Dort mit dem Fadenmäher sauber ausgemäht, die Grünerlen zurückgeschnitten und die Steine und Felsplatten wenn nötig in Stufen gelegt.
Hier ein alter, grasüberwachsener Trampelpfad,  der über abschüssige Steine führt und von dem man durch wuchernde Grünerlen vom Weg abgedrängt wird. Eben die wilde Schönheit Italiens.

Das Rifugio Andolla begrüßt mit beflaggter Vielfalt.

In der Bar rockt Janis Joplin auf Vinyl. Eine wirklich gut sortierte Bilbliothek rundet den ersten Eindruck ab. Nebbiolo, Arneis und ein Grappa, basierend auf Arneis!, lächeln einladend von der Getränkekarte.

Zum Abendessen gesellt sich draußen eine alte Füchsin dazu.

Sie bekommt ein paar Küchenreste zugeworfen, wohl irgendwie eine Art Gnadenbrot.

Als Primo gibt es Risotto mit Heidelbeeren.

Da der Käse, der Wein und die Gemüsebrühe nicht fehlen, ist das Ganze eine herbsüße Angelegenheit.

Beim Secondo, Polenta mit Hirschragout, taucht ein Steinbock an der Hütte auf.

Normalerweise seien es mindestens vier, die am Abend um die Hütte herumstromern und nach Salzigem suchen. Zum Beispiel bleibt an Sitzplätzen der Schweiß der Menschen haften. Ein guter Grund, diese Plätze abzulecken.

Zwei Rehe lassen sich auch noch in der Ferne blicken und beobachten mich neugierig beim Wäscheabnehmen.

Das Rifugio Andolla liegt in einer einsamen, wildreichen Gegend.

Nachtrag: Bei der Reservation für diese Hütte wurde auf der Website informiert, dass nur Reservationen per Email möglich sind, weil das Telefon defekt ist.

Grund dafür war ein Blitz, der in den Kamin eingeschlagen ist und die gesamte Elektrik beschädigt hatte. Bis auf die Telefonie konnte schon alles wieder repariert werden.

Mit zwei italienischen Gleitschirmfliegern, sechs deutschen Klettersteiglern und einem ViaAlpinaBlauWanderer übernachten wir in dieser wirklich super angenehmen Hütte.

Tag 36 – Zwischbergen – Rif. Andolla – 10,2 km – /1166 Hm – \467 Hm


Tag 37 – Samstag, 29. Juli:

Leicht wehmütig verlassen wir das freundliche Rifugio Andolla.

Das Hüttenteam rüstet sich schon für den italienischen Wochenendansturm von Tages- und ein paar Übernachtungsgästen.

Zum Passo Coronette auf 2650 Hm führt der Weg zunächst abwärts zur Alpe Camasco.

Grünerlen erobern die nicht mehr bewirtschaftete Alpe und auch die Wege zurück. Zäh und zeitaufwändig arbeiten wir uns durchs Dickicht.

Rückblick ins Val Antrona.

In 2019 sind wir auf der originalen GTA durch dieses Tal von Dorf zu Dorf gelaufen.
Heute sind wir auf der ‚hohen GTA‘ unterwegs. Auch eine Variante des Sentiero Italia führt hier entlang.

Kurz vor dem Passo Coronette wolkt es ein und das Wetter ändert sich wie angekündigt. Wir sind etwas spät dran weil wir die Dauer des Gangs durch Italiens wilde Schönheit unterschätzt haben.

Den wunderschön gelegenen Lago Ciapivul passieren wir nur. Wäre bei gutem Wetter ein prima Zeltplatz.

Am Passo Coronette (2690 Hm) angekommen fordert uns ein ziemlich langer und steiler Kettengang heraus.

Er erstreckt sich über gute 150m abwärts.

Lady C. ist in ihrem Element und kraxelt einfach herunter. Chapeau !!

Danach, im bei Lady C. nicht so beliebten Blockgelände, gibt es noch einen Rückblick auf die durchstiegene Rinne.

Den Lago Camposecco erreichen wir nach 7,5 Std. Die wenigen Kilo- und Höhenmeter hatten es heute in sich. Mit einer Familie vom Lago Maggiore und zwei Forellenanglern teilen wir uns das tolle Bivacco Camposecco.

Während es draußen vor sich hin regnet, fühlt sich Lady C. sichtlich wohl in ihrer Koje.

Vom Panoramafenster kann man bei guter Sicht bis zum Lago Maggiore schauen. Vielleicht haben wir morgen früh die Chance …

Tag 37 – Rif. Andolla – Biv. Camposecco – 6,0 km – /859 Hm – \588 Hm


Tag 38 – Sonntag, 30. Juli:

Um fünf Uhr werde ich wach. Es dämmert draußen. Ich ziehe meine Schuhe an und mache mich aus dem Bivacco. Ein glühender Himmel begrüßt mich. Der Lago Maggiore liegt noch im Dunkeln.

Das Bivacco Camposecco war wirklich eine gemütliche Stube.

Wir machen uns auf zu unserem nächsten Erlebnis. Es geht zunächst entlang eines unterirdisch verlegten Wasserrohres, das zwei Stauseen in verschiedenen Hochtälern miteinander verbindet.

Der Schacht für das Wasserrohr verläuft danach am Fels entlang.

Es lässt sich gut auf ihm laufen.

Dann beginnt der außergewöhnliche Erlebnisteil an dieser Tür.

Wir begleiten das Wasserrohr in einen Tunnel. Lady C. ist präpariert.

Der Tunnel ist etwas eng und feucht. Gleichzeitig ist er gut belüftet und kühl. Es geht immer entlang des Wasserrohres.

Gute 2,8 km und 50 Minuten geht es durch den Berg.

Dann ist das andere Ende erreicht. Lady C. hat es geschafft und ist froh, ihre Angst vor Tunneln überwunden zu haben.

Ein kleiner Gang bringt uns zur Staumauer des Lago Cingino. Diese ist in einschlägigen Kreisen ziemlich bekannt.

Wir haben Glück. Ein SteinbockKletterkünstler zeigt uns, wie man sich in einer Staumauer fortbewegt, um an die leckeren Mineralien heranzukommen, die die zurechtgehauenen Steine hier bieten.

Wir haben nicht erwartet, einen Steinbock hier anzutreffen und sind überglücklich darüber.

Sergio aus Milano lernen wir kennen und treffen ihn am Bivacco Cingino bei einer ausgiebigen Pause wieder.

Er ist Berater im Umweltbereich. Seine Arbeit scheint stressig und ist mit Todeslinien (deadlines!) gespickt. Er sucht Erholung in den Bergen. Wir treffen ihn mehrfach auf unserem Weg und unterhalten uns über Arbeit und das wirklich Wichtige im Leben.

Die ‚hohe GTA‘ führt uns heute zum Passo Antigini auf 2850 Hm. Vor lauter Panorama erkennen wir am Anfang den Pass nicht.

Kurz vor dem letzten Steilanstieg überqueren wir eine wunderbare Hochebene. Hier treffen wir ein älteres Paar aus Isreal, das schon seit zehn Jahren im Sommer für drei Wochen in den Alpen wandert, – mit Zelt!

Nach einer letzten Rollschotterrampe erblicken wir das Dach des Bivacco Antigine (2839 Hm), das sich hinter einem Felsen versteckt.

Doch zunächst zum Passo Antigini. Hier bekommen wir einen ersten Eindruck von den ersten Viertausendern der Walliser Westalpen. Beeindruckend bis grandios.

Ein Foto kann die Situation leider nur zu einem Bruchteil wiedergeben. Mir bleibt fast die Luft weg und ich habe Tränen in den Augen.

Das Bivacco ist baugleich mit vom Lago Camposecco. Irgendwie von außen gut gestaltet …

… und innen optimal und hell eingerichtet.

Gesamtkosten ca. 60.000€.

Wir treffen auf ein junges italienisches Paar vom Lago d’Orta, das anscheinend häufiger  in dieser wenig besuchten Region Bergkurztouren macht. Sie lassen den Nachmittag mit Sonnen auf warmen Steinen ausklingen.

Der Abend kommt mit seiner ganz eigenen Lichtstimmung. Nur kläglich kann ich sie einfangen.

Tag 38 – Biv. Camposecco – Biv. Antigini – 9,3 km – /1347 Hm – \836 Hm


Tag 39 – Montag, 31. Juli:

Eigentlich sollte es ein entspannter Tag werden: wenige Kilometer, wenige Höhenmeter, bestes Wetter und traumhafte Landschaft. Eigentlich.

Doch zurück auf Los: Warm eingepackt warte ich mit meiner Kamera in ’steifer Brise‘ um 5 Uhr auf den Morgen im Osten.

Das Licht überträgt sich langsam auf die Berge im Westen, hier ein Teil der Mischabelgruppe.

Und dann geht die Sonne wirklich auf. Obwohl selbstverständlich empfinde ich es immer wieder als ein wunderbares Ereignis.

Selbst das Licht und die Stimmung im Bivacco werden davon beeinflusst.

Noch ein letztes Lichtzucken bevor es ins normale Tageslicht übergeht.

Nach dem Passo Antigini sind wir für kurze Zeit wieder in der Schweiz. Wir laufen abwärts ins obere Saastal den Bergriesen der Mischabelgruppe entgegen.

Hinauf zum Monte-Moro-Pass (2857 Hm) beginnt Lady C. langsam an zu schwanken und etwas zu straucheln. Vermutlich lassen ihre Kräfte nach. Wir machen Pause. Sie legt ihre Beine hoch und trinkt. Nach zusätzlicher Kohlehydrate- und Mineralienzufuhr können wir unseren Weg langsam fortsetzen. Langsam, mit einigen eingebauten Atemübungen, erreichen wir den Pass.

Ab hier geht es nur noch ein paar hundert Meter bergab in den sommerlichen Tourizirkus am Lago Smeraldo hoch über Macugnaga. Im Winter steppt hier wahrscheinlich der Skibär.

Der Hausberg mit großer Statue der Madonna della Nevi ist komplett mit Metallstufen und Geländer ausgestattet, damit auch jeder der will, irgendwie hochkommt.

Wir müssen in Turbogeschwindigkeit von Italiens wilder Schönheit auf ‚Italia normale‘ umschalten.

Das Rifugio Oberto Maroli ist eigentlich eine freundliche Unterkunft auf 2830 Hm.

Nur liegt sie leider im Skigebiet mit all seiner Infrastruktur (Lifte, Schneekanonen, etc.).

Doch Lady C. will wieder zu Kräften kommen. Drum bleiben wir zum Auftanken (Ausruhen, Aufwärmen, Essen, Trinken) hier und machen das Beste draus.

Tag 39 – Biv. Antigini – RIf. Oberto Maroli – 7,6 km – /518 Hm – \567 Hm

6 Kommentare

  1. Monique Herzig
    3. August 2023
    Antworten

    Liebe Cornelia, Lieber Klaus,
    danke für die schöne Beiträge und Fotos. Es ist super, wertvoll und fantastisch!
    Ich habe gedachte , wir würden uns vielleicht in Tessin treffen aber jetzt seit ihr schon weiter. ich bin ab den 21. im Tessin und hoffe auf endlich ein wenig Sommer. Der Kasseler spätherbst mit Regen und niedrige Temperatur geht ab und zu auf das Gemüt.
    Also Hals und Bein Bruch und grüßt die Steinböcke von mir.
    Past gut auf euch auf!
    Monique

    • 13. August 2023
      Antworten

      Hey Monique, erst jetzt komme ich dazu, dir zu antworten. Ein Treffen in der Schweiz muss wohl irgendwann später stattfinden. Aber schön, dass du die Möglichkeit in Erwägung gezogen hast. Im Gegensatz zu Deutschland ist das Wetter hier prima. Tagsüber trocken, am Abend regnet es manchmal. Liebe Grüße aus Oyace von der Alta Via Aosta.

  2. Caroline
    7. August 2023
    Antworten

    Liebe Cornelia, lieber Klaus
    Mit Interesse habe ich eben verfolgt, wo euch die Wege -nach Zwischbergen – in der vergangenen Woche hingeführt haben. Es war schön, euch zu treffen. Ich nehme viele wertvolle Tipp‘s für meine geplante GTA-Wanderung 2024 mit und bewundere eure Hartnäckigkeit, Zielstrebigkeit und der ungebrochene Mut, das zu leben, was euch wichtig ist! 👌
    Chapeau!!
    Wir sind mittlerweile zurück im Alltag und tragen wertvolle Erinnerungen mit uns.
    Caroline & meine drei Wanderfreunde/innen!

    • 13. August 2023
      Antworten

      Liebe Caroline, schön von dir zu lesen. Und ich dachte schon, ich hätte euch arg zugetextet … aber wenn du was vom Terrassentreffen ‚mitnehmen‘ könntest, freut es mich. Grüße aus Oyace von der Alta Via Aosta.

  3. Daniel
    27. August 2023
    Antworten

    Liebe Cornelia, lieber Klaus,
    liebe Grüße vom ViaAlpinaBlauWanderer Daniel. Es war super nett, mit euch den Abend zu verbringen und Geschichten auszustauschen. Meine Knie haben sich in den Folgetagen gebessert und ich bin bis Turin gewandert und danach nach Ligurien weiter (um dem Regen zu entgehen). Dort dann die Via Alta dei Monti Liguri gewantert (von Garessio bis Genoa), die ich wärmstens (heißestens zur Mittagszeit 😉 empfehlen kann.
    Liebe Grüße und weiter wunderschöne Wanderungen!

    • 29. August 2023
      Antworten

      Lieber Daniel,
      schön von dir zu lesen. Prima, dass du dem Regen ausgewichen bist. Die Alta Via dei Monti Liguri kenne ich nur vom Anfang her, wo sie mit der GTA den gleichen Verlauf hat. Heiß war es in 2018 auch und ich kann mich an elendigen groben Schotter auf Mussolinis ehemaligen Militärwegen erinnern…
      Wir fliehen auch gerade vor Regen und vor allem Schnee über 2500 Hm. Auf nach Albanien in die Verwunschenen Berge!

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