Tag 58 – Sonntag, 25.8.: Larche – Rifugio Becchi Rossi
Immer wieder bin ich angetan von der Brunnenkultur in den Alpenländern.
In fast jedem Ort und häufig auch am Wegesrand außerhalb der Orte sind diese kleinen Trinkwasserspender platziert und laden ein zum Flasche auffüllen, trinken oder abkühlen. Die meisten sind einfacher gestaltet als dieser hier, meist ist es einfach nur ein Stück Schlauch.
Auch die Selbstverständlichkeit, mit der Trinkwasser zu jedem Essen kostenlos gegeben wird, finde ich richtig gut. In D und A und Teilen der CH ist das derzeit noch nicht üblich. Sollte es aber werden, finde ich.
Die Gite in Larche lassen wir am frühen Morgen hinter uns.
Wir haben eine lange Etappe vor uns. Fünf Kilometer Fahrweg bringen uns zum Eingang des Nationalparkes Mercantour (1904 Hm). Es gibt einen ‚Shuttlebus‘ (französisch: Navette) hierher, aber nur in der Hauptsaison – doch die ist vorbei.
Seit vier Tagen treffen wir Jaques, ehemaliger Lastwagenfahrer aus Marseille, in den Gites an, in denen wir die Nacht verbringen. Er ist seit Briançon auf dem GR5 unterwegs und will bis ans Mittelmeer laufen.
Das Besondere an ihm: Er ist 83! Jahre alt und läuft jede der Etappen langsam mit stoischer Gleichmäßigkeit fast ohne Pausen durch. In der Gite angekommen laufen ebenfalls mit stoischer Gleichmäßigkeit seine immer gleichen Rituale ab: Körper und Wäsche waschen – intensiv und konzentriert Kreuzworträtsel!! lösen bis zum Abendessen – dann essen, essen, essen, soviel das Angebot hergibt – und ins Bett gehen. Früh am Morgen ist er der erste, der nach dem Frühstück losmarschiert – wie ein Uhrwerk. Er hat unsere volle Bewunderung, dieser Jacques.
Schöne Landschaftsbilder können manchmal trügerisch sein.
Diese ‚wunderbaren‘ großflächigen Hangwiesen für die Weidewirtschaft sind durch jahrhundertelange Rodung von Waldflächen entstanden und werden nun allmählich Opfer der sich so beschleunigenden Erosion in Form von Auswaschungen und Erdrutschen.
Das Mercantour liegt in Südfrankreich und in Italien an der französisch-italienischen Grenze. Der Nationalpark Mercantour hat mit dem Naturpark Alpi Marittime, der sich nordöstlich direkt anschließt, sein italienisches Pendant.
Wir steigen ein in den Nationalpark Mercantour. Es wird ruhiger, das Landschaftsbild wirkt natürlicher.
Eine Parkpolizistin schaut nach der Einhaltung der Regeln und erwischt tatsächlich jemanden, der sich erdreistet, sein Zelt zur Übernachtung noch nach 9 Uhr nicht abgebaut zu haben. Bis zu 450 € kann das hier kosten!
Lady C. hat eine Begegnung an ihrem Schuh mit einem zukünftigen Schmetterling, der schon in seinem Vorstadium wunderschön ist.
Auch alternde Blumen können Schönheit ausstrahlen.
Es geht am Flüsschen L’Ubayette entlang hinauf zum Lac du Lauzanier (2286 Hm), der zum Pausieren einlädt.
Sofort machen sich Heuschrecken über meinen Rucksack her.
Die letzten blühenden Blumen am Wegesrand versuchen mit intensivem Gelb Insekten anzulocken.
Die meisten anderen Blumen sind bereits im Verfallsprozess und bieten durch Verwitterung der Blätter eine Basis für erneutes Wachstum im nächsten Jahr.
Wir passieren den Lac de Derrière la Croix (2438 Hm), ein besonders farbiger Fleck in sonst steiniger Landschaft.
Vom Pas de Cavalle (2662 Km) bekommen wir einen ersten Überblick, was in den nächsten Tagen vor uns liegt.
Der Abstieg vom Pass erweist sich als schottrige Angelegenheit.
Hier verabschieden wir uns endgültig vom GR5, der bis hier mit der GTM (Grand Tour De Mercantour) identisch ist.
Am unscheinbaren Col du Pouriac (2504 Hm) wechseln wir von Frankreich nach Italien. Durch Grauschieferschotter geht es durch Alpwirtschaft mit weißen, piemontesischen Kühen auf der Gias Colombart hinab, vorbei an kontinuierlich verwitternden Bergen, die ihre zerborstenen Steine wie Schuppen abwerfen, die sich dann zu einem Schotterteppich ausbreiten.
Den Weiler Ferrere auf 1889 Hm erreichen wir, um viele Eindrücke bereichert, um 17 Uhr. Das Rifugio Becchi-Rossi, direkt neben der Kirche gelegen, …
… begrüßt uns mit italienischer Herzlichkeit. Mit drei Franzosen, die ebenfalls durchs Mercantour laufen wollen, verbringen wir einen fröhlichen, europafreundlichen (Vive l’Europe!!) Abend mit Gesangseinlagen.
Ferrere ist ein kleines, gut restauriertes Dorf. Im Winter lebt hier kein Mensch und die Infrastruktur (Wasser, Elektrizität) wird komplett abgeschaltet!
Um 21 Uhr möchte die Hüttenwartin den geselligen Abend beenden. Nach einem solch langen Tag passen wir uns gern an und gehen nach einen spendierten Genepy zu Bett. Buonanotte!
Tag 58 – 22,4 km – / 1368 Hm – \ 1152 Hm
Tag 59 – Montag, 26.8.: Rifugio Becchi Rossi – Refuge des Lacs du Vens
Heute haben wir es nicht weit und wir können uns noch mehr Zeit lassen für die kleinen und großen Schönheiten am Wegesrand.
Beim Verlassen von Ferrere fallen uns gut geschützte Felder von …
… auf. Unsere Nachfrage ergibt, dass hier die Ährige Edelraute gezüchtet wird, um daraus Genepy, einen in den SüdWestalpen bekannten Likörschnaps herzustellen.
Zum Abschied noch ein Rückblick auf Ferrere, dem im Winter abgeschalteten Dorf.
Wir steigen gemächlich auf ins Valle Forneris …
… und werden von kleinen Naturschönheiten überrascht.
Schmetterlinge unterschiedlichen Typs laben sich gemeinsam an einer Blume, ohne den anderen verdrängen zu wollen.
Darwin hat nicht immer Recht.
Eine Wespe präsentiert die Behausung ihrer Wohngruppe.
Eine Sorte unscheinbarer Heuschrecken …
springt häufig vor mir auf und breitet urplötzlich ihre orangen versteckten Flügel aus.
Ich kann sie in diesem Zustand nur mit Hilfe eines Films erwischen und ein unscharfes Bild aus dem Film herausschneiden. Ich komme mir vor wie auf einer Jagd.
Wir passieren einen privaten Unterschlupf in phantastischer Umgebung.
Ein Lärchenwald erobert vom Gletscher glattgeschliffene Felsen.
In ein paar tausend Jahren wird man von den Felsen nichts mehr sehen. Aber wer wird dann noch darauf achten? Menschen wohl kaum, wenn sie sich weiter so selbst- und naturzerstörerisch verhalten wie in den letzten 5000 Jahren.
Wir ernten unsere ersten reifen Heidelbeeren in diesem Jahr – auf ca. 2300 Hm.
Am Col du Fer (2582 Hm) überschreiten wir die Grenze und sind wieder in Frankreich und im Nationalpark Mercantour.
Auch der Abstieg ist heute gespickt mit kleinen und großen Überraschungen.
Eine wunderschöne Heuschrecke stellt sich unwissend und geduldig einem Fotoshooting …
… genau wie Lady C. beim Bergflanieren.
Die Wege werden wieder etwas gepflegter …
… und die Felsformationen noch berauschender.
Genauso berauschend ist die erste Sicht auf das Refuge des Lacs de Vens.
Die Seen sind Überreste längst vergangener Gletscher.
Kurz vor unserer Ankunft dürfen wir noch BergwegSex beobachten. In aller Ruhe lassen die beiden sich dabei ablichten.
Das Refuge ist schnuckelig und bietet maximal 45 Gästen Platz.
Rücksäcke müssen aus den Schlafsälen draußen bleiben. Dafür ist kein Platz.
Entgegen aller Wettervorhersage gewittert und regnet es am Nachmittag inkl. erbsengroßer Hagelkörner, die die Landschaft noch für lange Zeit danach in Weiß tunken.
Der Abend ist wieder gesellig. Es wird parliert und gespielt, vor und nach dem Abendessen.
Die Hütte ist voll, auch mit Gästen, die in den Hagelregen gekommen sind. Entsprechend feucht und ‚trocknend‘ geht es im Vorraum der Hütte zu. Alle gehen trotz Gedränge sehr respektvoll und tolerant miteinander um.
Schön finde ich, dass sowohl die komplette Selbstversorung …
… als auch die Annehmlichkeit der Halbpension nebeneinander in einer Hütte, in gleichen Räumlichkeiten möglich sind.
Tag 59 – 7 km – / 796 Hm – \ 316 Hm
Hallo ihr beiden,
das ist wieder ein wunderschöner Teil der Alpen und ihr habt die optimale Jahreszeit dafür.
Der Mercantour hat mich zum Abschluss meiner langen Wanderung in 2019 auch total begeistert und ich freue mich auf ein Wiedersehen.
Alles Gute Weiterhin
Liebe Grüße Jörg
Ciao Jörg,
Ja das Mercantour und die Alpi Marittimi (Seealpen) sind wirklich gute Ausklänge eines langen Bergwandersommers. Lass uns in Kontakt bleiben. Liebe Grüße auch an ‚Erika‘
Wieder so schöne Naturerlebnisse. Schön, dass ich daran teilhaben kann. Liebe Grüße aus Uganda!
Heidi