Unter Giganten

Tag 50 – Freitag, 11. August:

Nun laufe ich allein weiter. Mal sehen wie es mir damit geht.

Von der Bushaltestelle in Valtournenche geht es gleich kräftig bergan. Der Ort erwacht gerade.

Sogar einen Blick auf den noch im Schatten liegenden Campingplatz gelingt mir.

Ein alter Eselsweg führt weiter steil nach oben ….

… wo auf aktiven Alpi (hier Arpe) von Kühen Milch gemolken wird. Diese wird dann im Tal in einer Käserei zu leckerem Fontinakäse verarbeitet. Leider ist dieser bei uns gar nicht oder wenn, dann nur sehr teuer erhältlich. Hier gehört er zum Standard.

Als Kuh kann man mit Monte-Rosa-Blick ja nur leckere Milch erzeugen, aus der dann der Fontinakäse hergestellt wird.

Wie oft werde ich überraschenderweise nochmal einen letzten Blick haben? Diesmal auf Cervino (Matterhorn) und Monte Rosa gleichzeitig!

Gleich nach dem Pass Fenetre d’Ersaz (2300 Hm) ergibt sich ein ganz anderes Bild. Die Landschaft wird weit und weich.

Naturschutzgebiet Loson Pond

Ich passiere die aufgelassene Hochalpe Grand Raye auf 2354 Hm.

Alpen-Küchenschelle / Alpen-Kuhschelle

Mein letzter Anstieg zum Fenetre du Tsan (2730 Hm) für diesen Tag. Mangels Lady C. müssen Stock und Hut als Model herhalten.

Die Landschaft und das Alleinlaufen erinnern mich stark an die Pyrenäen: weite Landschaft, kräftige Farben, fast keine Menschen.

Mein heutiges Ziel ist in Sicht. Das komfortable Bivacco Reboulaz (2577 Hm) am Lago di Luseney .

Es ist schon eher eine gut ausgestattete Selbstversorgerhütte. Mit einem Mann, Matheo, (Informatiker, 64 J.) aus Turin und seinen erwachsenen Töchtern, die in Mailand und Marseilles wohnen, sowie einem Paar aus Verona verbringe ich einen interessanten Abend. Thema: Was ist wirklich wichtig im Leben (Sicherheit, Ego, Sinn, Nichts, weiß noch nicht), wenn ich weiß, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit nur dieses eine Leben lebe?

Dabei wird Polenta gekocht und zum Schluss Tomakäse eingerührt.

Ich werde zum Abendessen eingeladen. Dabei darf ein kleiner Schluck Rotwein nicht fehlen.

Tag 50 – Valtournenche – Biv. Reboulaz – 16,2 km – /1852 Hm – \801 Hm


Tag 51 – Samstag, 12. August:

Nach einem Frühstück und wiederum guten Gesprächen mit Vater und Töchtern mache ich mich auf den Weg, der heute ein langer werden wird.

Wie fast immer ein Rückblick auf den Schlafplatz, diesmal auf das Bivacco Reboulaz (Suchbild).

Über den Wolken laufen, das ist schon ein tolles Gefühl.

Die Alta Via Aosta führt hier durch zerklüftete Gebirge, doch immer mit moderater T3-Schwierigkeit.

Ganz weit hinten ist doch nochmal der Monte Rosa zu entdecken.

Ein Amphitheater der Berge …

… bereitet auf einen besonderen Ort für ein Kloster vor.

Gleich daneben das kleine Rifugio Oratorio Di Cuney (2655 Hm), wo ich mir einen Cafe Latte gönne.

Wollgras an See ist immer ein prima Fotomotiv.

Drei Pässe (Col Terray, Col de Chaleby, Col Vessonaz) mit ähnlicher Höhe (ca. 2750 Hm) absolviere ich heute. Es ist immer wieder ein bisschen ‚Geschenk auspacken‘ wenn ich so langsam am Pass ankomme und in die nächste unbekannte Landschaft blicke.

Col de Chaleby

Hier geht es hinter dem Pass weich weiter, bis auf die erste etwas drohende Wolke.

Das Bivacco Rosaire et Clairmont liegt wunderbar und zudem auch noch am See. Doch ist es erst 12:30 Uhr. Noch kein Feierabend. Also weiter.

Der Col des Vessonaz (2794 Hm) ist heute der letzte. Der Ausblick ins ca. 1700 Hm liegende Tal lässt sich nur erahnen und ist leider nur beschränkt in Bits und Bytes festhalten.

Vier E-Biker sind mit mir hier oben und präparieren sich für den Rücksturz zur Erde (Helm, Schulter-, Knie- und Rückenprotektoren, – sie sehen ein bisschen aus wie römische Krieger). Enge, staubig-schottrige-rutschige Serpentinen prägen den wirklich steilen Abstieg bzw. die Abfahrt.

Trotz meiner Vorurteile gegenüber E-Bikern meistern die Vier die Abfahrt beachtenswert. Nur leidet der Weg ziemlich darunter. Wenn das pro Jahr Hunderte machen, bleibt nur noch eine Staub- und Schotterhalde übrig, die kaum noch begehbar ist.

Fast unten in Oyace angekommen ballen sich am Himmel die angekündigten Regenwolken zusammen.

Ich habe mal wieder Glück. Sie entladen sich zu einem kräftigen, kurzen Gewitter, nachdem ich im kleinen Dörfchen Oyace ein Bett im ‚Dortoir‘ bei ‚Chez Cocò‘ gefunden habe …

… und im Trockenen bei Apero (Präsent des Hauses) und Arneis den Abend einläute.

Hier hat das Französische die Oberhand. Die Gastgeberin ruft schon jemand zur Hilfe, wenn ich versuche, ein paar Brocken italienisch spreche. Die Speisekarte wiederum ist in italienisch gehalten. Im Hintergrund höre ich bei älteren Menschen eine Sprache, die ich nicht identifizieren kann. Verwirrender Mix, der flexibel hält.

Tag 51 – Biv. Reboulaz – Oyace – 19,3 km – /1115 Hm – \2316 Hm



Tag 52 – Sonntag, 13. August:

Habe gut geschlafen im Dortoir von Chez Cocò in Oyace.

Sofort geht es wieder steil aufwärts, hauptsächlich durch Lärchenwald, der sich bis zur Baumgrenze erstreckt.

Oyace wird kleiner, je höher ich komme.

Wie klein doch die Menschenwelt ist im Vergleich zur uns umgebenden Natur.

Hier rauscht zur Schneeschmelze bestimmt ein gewaltiges Wasser herunter. Mein italienischer Mitschläfer im Dortoir, links im Bild, dient hier als Größenvergleich.

An der aufgelassenen Arpe Breson (2197 Hm) sehe ich  seit langem mal wieder eine Markierung für den Sentiero Italia. Es ist einfach ein toller Weg, der durch die italienischen Berge führt.

Am Aufstieg zum Col de Breson (2491 Hm) passiere ich einige uralte Lärchen.

Oben dann bekomme ich einen Tiefblick auf Ollomont, meinem heutigen Ziel. Noch zweieinhalb Stunden Abstieg.

Ein  bisschen Ostfriesland: ich kann schon jetzt sehen, wo ich morgen sein werde (als Zwischenziel).

Anfangs interessant und abwechslungsreich endet der Weg auf einem Alpzufahrtsweg, dem ich bis ins Tal folgen muss. Aus Langeweile mache ich ein SchattenSelfie.

Im Dortior (schweizerisch: Massenlager, italienisch: Dormitorio) Ollomont kühle ich meine heiß gelaufenen Beine mit einer erfrischenden Dusche.

Es ist einfach und gut eingerichtet. EinRaumKonzept. Kenne ich irgendwoher.

Mit zwei Holländern verbringe hier ich den Abend und die Nacht. Einer von ihnen will im September am ‚Tor des Geants‚ teilnehmen, einem Trailrun-Wettbewerb, der sich über die gesamte Alta Via Aosta erstreckt: 330 km und jeweils 24000 Hm rauf und runter, – in einem durch. Ich enthalte mich jeder Bewertung. Er will mit seinem Kumpel/Trainer die Strecke schnellwandernd erkunden. Mit solchen crazy Vögeln einen Abend zu verbringen, ist schon mal interessant.

Tag 52 – Oyace – Ollomont – 12,9 km – /1348 Hm – \1336 Hm


Tag 53 – Montag, 14. August:

Die Nacht hat viel Regen gebracht und alles klar und rein gewaschen.

Noch ist der Blick auf die ‚Giganten‘ im Talabschluss möglich.

Die ‚Tor des Geants‘ ist fest ausgeschildert.

‚Geants‘ meint nicht die Läufer, sondern die gigantischen Berge, an denen der Trailrun entlang führt.

Und wieder ein neuer Weg, der die Alta Via Aosta ein Stück begleitet: TDC – Tour des Combins.

Der Weg umrundet, wie beschrieben, die Gebirgsgruppe des Grand Combin, sowohl auf schweizerischer wie auf italienischer Seite.

Wenn ich gestern gewusst hätte, welch freundliche Atmosphäre das Rifugio Champillon ausstrahlt …

… wäre ich am Nachmittag nochmal 1000 Hm aufgestiegen. Sogar in einer Jurte kann man hier übernachten.

Die Giganten hüllen sich heute in Wolken. Schade.

Die Landschaft wird lieblicher, die Wege weicher.

In Saint-Rhémy finde ich in diesem kleinen, schnuckeligen Hotel keinen Schlafplatz.

Morgen ist Ferragosto, neben Weihnachten der wichtigste Feiertag in Italien. Alles ist ausgebucht und ich ziehe mit wenig Hoffnung weiter. Das Zelt hilft heute auch nicht wirklich. Ich finde einfach kein ebenes Plätzchen und zusätzlich ziehen sich dunkle Wolken zumindest zu einem Regenguss/Gewitter zusammen.

Zwei Orte weiter, in Couchepache, am Steilhang gelegen, finde ich einen Hinweis auf ein ‚Hotel des Alpes‘. Hinein und fragen. Natürlich ist auch hier kein Zimmer frei, aber … es gibt ein Dortoir für Wandernde, das heute vollkommen leer steht. Wunderbar!

Ich habe ein Unterkunft und gleich beim ersten Panaché regnet, blitzt und donnert es. Alles wieder richtig gemacht!

Ich bin anscheinend in einer italienisch-britischen Seniorenresidenz untergekommen. Auch hier, genau wie in Macugnaga, sind die Stammgäste gemeinsam mit dem Hotel alt geworden. Die Anzahl der Hunde ist überproportional hoch. Das Abendessen, 3 Gänge plus Dessert, wird gepflegt an zugeordneten Tischen eingenommen. Ich bin mal wieder der einzige Wanderer und Deutsche.

Danach geht ‚man‘ in die Bar zum Schwätzen, Spielen und Rumsitzen. Zwei junge englische Damen, ich vermute ein Paar, ebenfalls Gäste des Hotels, geben zur allgemeinen Freude ein kleines Konzert mit Klavier und Gesang. Songs der Beatles, von Sting und das Ave Maria sind im Repertoire.

In meinem etwas zu feuchten Dortoir schlafe ich, gefüllt mit gutem Essen, Wein und nach kulturell Erbaulichem prima ein.

Tag 53 – Ollomont – Couchepache – 21,7 km – /1790 Hm – \1528 Hm


Tag 54 – Dienstag, Ferragosto, 15. August:

Ein sehr gepflegtes Frühstück mit allem Drum und Dran schließt den guten Eindruck vom Hotel des Alpes ab.

Der Weg führt mich durch einige kleinste Dörfer, die von der Zufahrtstraße zum Sankt-Bernhard-Pass und -Tunnel irgendwie eingeschlossen wirken. Ein Schmerzensgeld wäre angebracht.

Dorfeinblick

Impression am Wegesrand

Auch eine mögliche Dachbedeckung

Endlich weg vom Asphalt geht es hinauf zum Rifugio Frassati. Dabei überholen mich ein paar Trailrunner/innen. Anscheinend eine beliebte Freizeitbeschäftigung in Italien, beliebter als Wandern.

Die Landschaft wird wieder größer und weiter.

Eine noch intakte Alpe (Arpe) zeigt mir, wie heute die Kuhherde überwacht wird.

Wunder! An mir zieht eine frohgelaunte, italienische wandernde Jugendfreizeit vorbei.

Sofort im Anschluss komme ich in einen Hochalmabtrieb von ca. 100 Kühen. Wer weicht wem aus? Das ist hier die Frage.

Hirte und Hund sorgen für einen halbwegs geordneten Abtrieb.

Das Rifugio Frassati liegt etwas versteckt und hat eine interessante Architektur, die irgendwie den umgebenden Felsen ähnelt.

Das Haus wird von Ehrenamtlichen betrieben. Der Gewinn kommt einem gemeinnützigen Zweck zugute.

Das Col de Malatra (2925 Hm) ist heute der höchste Punkt.

Sieht schwerer aus als es ist. Immerhin laufen hier beim Tor de Geants 1200 Trailrunner/innen entlang. Ein paar Hobbyläufer belagern gerade den Pass.

Von hier schaue ich, was es heute noch zu sehen gibt. Ich ahne Gigantisches.

Erste Näherungen bestätigen meine Ahnung. Hier die Südseite der Grandes Jorasses.

Da wird es ganz unwichtig, dass ich bisher noch keinen Schlafplatz gefunden habe. Alles angeblich ausgebucht. Zur Not laufe ich heute noch bis Courmayeur und gehe auf einen Campingplatz. Bin gut drauf.

Der Monte Bianco (Mont Blanc) hängt noch in den Wolken.

Ich nähere mich immer mehr den Gletscherresten …

Das Rifugio Walter Bonatti liegt extrem gut, auch um den zunehmenden Gletscherschwund zu beobachten.

Ab hier verbinden sich Alta Via Aosta und Tour de Mont Blanc.

Der Weg wird rappelvoll. Insgesamt zähle ich ab hier am Nachmittag ca. 400 Menschen. Ähnlich dem Jakobsweg in den Pyrenäen. Entsprechend ausgelatscht und staubig ist der Weg.

Gleichzeitig ist die Aussicht wirklich einmalig und ich kann gut verstehen, dass es so viele Menschen hierher zieht. Es wird ja auch genug Werbung in einschlägigen Zeitschriften für die Tour de Mont Blanc gemacht.

So gegen 17 Uhr gibt sich Monte Bianco die Ehre und zeigt sich ganz von seiner Südseite.

Monte Bianco (4806 Hm)

Als letzte Möglichkeit frage ich im Rifugio Bertone nach einem freien Bett. Und siehe da: trotz der Meldung auf der Webseite, dass die Hütte ausgebucht ist, gibt es noch ein freies Plätzchen. Ich freue mich und spare heute einen Abstieg von ca. 800 Hm sowie die Suche nach einem freien Campingplatz in Courmayeur an Ferragosto.

Den Abend verbringe ich mit einer Neuseeländerin und zwei Kanadiern, die extra wegen der Tour de Mont Blanc angereist sind! Ich hoffe, sie sind schmerzfrei bzgl. der Anzahl Mitwandernden, die auch auf der Tour unterwegs sind.

Tag 54 – Couchepache – Rif. Bertone – 23,5 km – /1728 Hm – \1391 Hm


Tag 55 – Mittwoch, 16. August:

Um 6 Uhr stehe ich auf, um nochmal einen Blick auf den Mont Blanc zu bekommen. Und ich habe Glück: fast völlig wolkenfrei steht er in der Morgensonne.

Es macht mich still und ruhig, gleichzeitig lädt es mich mit Energie auf.

Der Abstieg nach Courmayeur ist unspektakulär, bringt mir jedoch ein paar schöne Bilder ein.

Rifugio Bertone an Monte Bianco

Monte Bianco mit Wolkenschein

Die andere Realität ereilt mich schneller als gewünscht. Zunächst werde ich willkommen geheißen …

… dann trudele ich durch die Einkaufsmeile von Courmayeur

… trinke den letzten Cappuccino auf italienischem Boden und spüre schon bald die Enge einer Stadt, was ich gar nicht mehr gewohnt bin.

Nur schnell raus hier …

Tag 55 – Rif. Bertone – Courmayeur – 4,0km – /10 Hm – \760 Hm

6 Kommentare

  1. Almut Freund
    17. August 2023
    Antworten

    Wunderschöne Bilder, wunderschöner Bericht, danke , erbaut mich für einen normalen Arbeitstag in der Großstadt, könnte gleich loswandern!

    • 17. August 2023
      Antworten

      Liebe Almut, danke für den Kommentar. Es tut immer wieder gut, auf der Tour begleitet zu werden. Fortsetzung folgt!

  2. Heidi Wahren
    17. August 2023
    Antworten

    Lieber Klaus, das war wieder ein toller Bericht. Wie gut, dass ich nicht mitlaufen muss und trotzdem alles sehen kann. Viel Kraft beim Weiterlaufen. Liebe Grüße Heidi 🤓

    • 17. August 2023
      Antworten

      Liebe Heidi, danke für die weitere Begleitung, obwohl deine Freundin gerade woanders durch die Berge strawanzt. Liebe Grüße vom Lac du Blanc gegenüber vom Montblanc.

  3. Volker Hildebrand
    17. August 2023
    Antworten

    Wieder tolle Bilder und Texte! Viel Spaß beim weiter wandern! Die Blume müsste die Frucht der Alpen Kuhschelle sein!

    • 17. August 2023
      Antworten

      Vielen Dank für die ‚Blumen‘, Volker. Und auch danke für den Hinweis auf die Alpenkuhschelle. Ist das das gleiche wie die Küchenschelle?

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