Valtellina

Tag 44, 13.8.:

Gravierende Veränderungen zeichnen sich ab: Lady C. will mit Freunden/innen eine Woche in den Bergen in der Nähe von Innsbruck verbringen. Sie und ihre Freunde/innen haben diesen Aufenthalt schon lange vorher geplant.

Bei der üblichen Recherche darüber, wofür Tirano bekannt ist, stolpern wir über die in Bahnfahrerkreisen berühmte Bernina-Bahn, die hier ihre Endstation hat.

Und es gibt sie, – die Möglichkeit, mit dem Bernina-Express bis Chur und dann normal weiter nach Innsbruck zu fahren.

Ich bin gespannt auf ihre Fahrteindrücke.

Doch zuvor noch ein bisschen Werbung für Sigma, eine italienische Supermarktkette, machen, – sonst sähe das Bild geschönt aus.

Nun geht es für mich also allein weiter. Nichts Neues für mich und ich fühle mich wohl dabei. Nur leider schleicht sich seit drei Tagen so langsam eine Erkältung bei mir ein, die eher mehr als weniger wird. Der CovidTest ist negativ. Das beruhigt erstmal.

Heute laufe ich einen Teil der Via dei Terrazzamenti (=Terassenroute) auf der räthischen Hangseite im Valtellina entlang.

Via dei Terrazzamenti (=Terassenroute)

Noch ein Rückblick auf Tirano, das auf nur 440Hm liegt. Entsprechend warm und schwül ist es.

Der Weg führt auf der Höhe zwischen 400Hm und 700Hm durch alte Dörfer …

… und an Weingütern vorbei.

Hibuskusblüten prallen ins Auge.

In den Steilhängen des Valtellina wird hauptsächlich die Nebbiolo-Traube angebaut, aus der teurer Wein entsteht. In flacheren Bereichen wird Obst ( Äpfel, Birnen) produziert.

Schlecht erreichbare (=unwirtschaftliche) Weinbauernhäuser verfallen und werden ohne Absicht der Natur zurückgegeben.

Eine Weinbäuerin füllt mit ihrem Sohn Apfelsaft in Wespenfallen. So werden die wertvollen Trauben vor Befall geschützt.

Meine Nase läuft schneller als ich und so erreiche ich erst nach 12 km Teglio. Meine Nase wartet hier auf mich ;-). Mittlerweile ist es brütend heiß geworden und ich spüre, wie ich mehr und mehr schwächele.

Die Quartiersuche ist auch nach zehn Anrufen in Albergi, B&Bs, Hotels, etc. nicht erfolgreich (Ferragosto!!, alles zu hohen Preisen ausgebucht).

Eine nicht ganz verständliche Zusage bekomme ich in Prato Valentino vom Baita del Sole, 6km und 830Hm aufwärts entfernt. Ein Wanderweg und ein kleines Sträßchen führen dort hin. Ich versuche es mit dem Sträßchen, per Anhalter und habe Glück: Das vierte Auto hält an. Ein Jäger mit seinen zwei jungen Hunden lädt mich ein und setzt mich genau vor meinem Ziel, der Baita del Sole, ab. Die liegt am Fuße eines Skigebietes und hat schon ihre besten Zeiten hinter sich, – so wie das Skigebiet auch.

Baita del Sole in Prato Valentino auf ca. 1700Hm

Deshalb ist die Baita auch geschlossen und wird gerade stückweise grundsaniert. Ob es hier noch im Winter Schnee hat?

Ein Zimmer, das noch nicht in der Sanierung ist, wird an mich vermietet. Leben auf der Baustelle. Kenne ich irgendwie.

Ich bin froh eine Unterkunft gefunden zu haben, denn mein Zustand verschlechtert sich zusehends: Husten, Schnupfen und ein bisschen Fieber. Gerade kriege ich noch hin, mir am Abend ein Risotto zu machen. Dann falle ich ins Bett.

Tag 44, 13.8: Tirano -> Prato Valentino – 5,7 Std. – 12,3km – /766Hm – \348Hm

Tag 45, 14.8.:


Die Erkältung hat mich umgelegt wie ein Waldarbeiter einen Baum fällt. Ich will heute nicht weiter laufen sondern werde mich erstmal erholen. Salbeibonbons, Paracetamol, Mittagsschläfchen und diese Ruhe hier tun ihren Teil dazu. Ich weiß nicht, ob ich morgen schon wieder fit bin, hoffe es aber.

Der Blick aus dem Fenster ist eine ideale Ferragosto-Idylle.

Ich stelle mir vor, dass bei uns jemand sein Haus in schwarz-rot-goldnen Farben anmalt …

Übrigens hat Ferragosto (feria augusto) vorchristlichen Ursprung. Hab ich bei Wikipedia recherchiert. Hab ja jetzt Zeit beim Auskurieren.
Es war die Siegesfeier Kaiser Augustus‘ (im Jahr 29 vor unserer derzeitigen Jahresrechnung) über Ägypten.
Während der Christianisierung ist ‚MariaHimmelfahrt‘ auf diesen Tag gelegt worden, damit die römischen ‚Heiden‘ diesen christlichen Feiertag auch artig mitfeiern. Jetzt ist es der wichtigste katholische Feiertag in Italien und gleichzeitig DER italienische Familientag. Die meisten Urlaube in Italien werden um diesen 15. August genommen. Fast alle Räder in Italien stehen still, bis auf die Elementarversorgung, Gastronomie und die Freizeitbranche. Echt verrückt.

Tag 46, 15.8.:


Immer noch ist Auskurieren dran. Außer zum Frühstücken in der Residenz Stefania, die 300m entfernt liegt, bin ich hauptsächlich in meinem Zimmer, schlafe, esse und trinke ein wenig von meinen Vorräten und kommuniziere mit Lady C., Sir C. und meinen Kindern. Auch so geht ein Tag vorbei.

Es bewährt sich jetzt, dass ich vor Jahren mal eine viertägige Übung im fast völligem Nichtstun (außer Essen, Trinken, Schlafen (nur nachts), ausscheiden, sitzen und gehen (keine Wanderung, keine Spaziergänge)) in einer Selbstversorgerhütte im Tessin  gemacht habe. Außer ab und zu mal auf dem mobiltel zu daddeln oder zu schlafen mache ich rein gar nichts. Wie bei Loriots: „Ich sitze hier …“. Fühlt sich gut an, dass es möglich ist. Und auch das geht vorbei, beides, – das Nichtstun und das SichDabeiGutFühlen.

Übrigens ist die Bergkette im Hintergrund das Orobie, ein Gebirgszug nördlich von Bergamo, anspruchsvoll und attraktiv.

Tag 47, 16.8.:


Die Spitze des Ferragosto ist vorbei, die Reihen der urlaubernden italienischen Familien lichten sich. Ich muss weniger husten und schneuzen, bin aber noch schlapp. Wenn es nicht anders geht, werde ich den Rest der Woche hier bleiben, um wieder fit zu werden.

Nach einigen digitalen Recherchen gehe ich derzeit davon aus, dass ich mir eine akute Bronchitis eingefangen habe, woher auch immer. Covid käme auch noch in Betracht, doch fehlen hierfür die Symptome des eingeschränkten Geruchs- und Geschmackssinns. Muss aber nichts heißen.

Beides sind Viruserkrankungen und infektiös. Dementsprechend reduziert mache ich Kontakt zu anderen Menschen und nehme mein Essen in der Residenz Stefania auf der Terrasse zu mir.

Am Nachmittag legt mich ein knackiger Fieberschub nochmal um, so dass ich wirklich an ärztliche Unterstützung denke. Doch ein paar Wadenwickel und viel warmes Wasser trinken holen mich da bis zum Abend wieder raus.

Was hat ein Älpler früher gemacht, wenn er krank geworden ist und gleichzeitig z.B. 30 Kühe zu hüten und zu melken hatte und dazu noch Käserei betrieb? Konnte er auf Hilfe von den Nachbaralmen hoffen? Musste er auf Gedeih und Verderb irgendwie durchhalten und trotz Krankheit weiterarbeiten? (Siehe dazu auch den Kommentar weiter unten von Monique.)

Weitere Recherchen ergeben, dass eine Bronchitis ca. 14 Tage zum Ausheilen braucht und auch für eine gewisse Zeit danach keine hohe sportliche Belastung empfohlen wird. Da ich des Rechnens mächtig bin, kann ich mir ausmalen, dass ich noch ca. 2-3 Wochen nicht fähig sein werde, meine Alpenwanderung, so wie ich sie mir vorstelle, fortzusetzen.

Hierbleiben ist auch keine Alternative:

  • das Essen ist miserabel: Aufgewärmtes von den Vortagen, in Fett schwimmend und wirklich nur lauwarm.
  • Es gibt keine Einkaufsmöglichkeit und meine Rucksackvorräte schwinden, so dass ich auch aus diesem Grund nicht einfach so meine Tour fortsetzen könnte.
  • Ab Samstag käme Lady C. dazu, die sich bei mir auch erstmal anstecken könnte, was für sie nicht gut wäre, – aber auch noch eine Unwägbarkeit bei der Fortführung der Alpenwanderung bedeuten würde.
  • Es gibt kaum Kommunikationsmöglickeiten.
    • Meine Ansprechpartnerinnen in der Residenz Stefania sind Kubanerinnen und eher des Spanischen mächtig. Ihr Italienisch verstehe ich kaum. Dank google-Übersetzer Deutsch <-> Spanisch geht doch irgendwie das Nötigste.
    • Mein selbst gewähltes SozialDistancing wg. Minimierung des Infektionsrisikos ist auch nicht gerade die Urkraft der Kontakt- und Lebensfreude.
    • Die digitale Verbindung in die Außenwelt schwankt stark von nix bis LTE. Wifi ist nur zum Frühstück und zum Abendessen in der Residenz Stefania nutzbar.

Eine sinnvolle Möglichkeit aus dem Dilemma  herauszukommen ist, mit dem Zug nach Hause zu fahren und dort wieder richtig fit zu werden.

Mit dieser schlüssigen Option schlafe ich gut ein.

Tag 48, 17.8.:


Nach einer weiteren HustSchlafHust-Nacht steht der Entschluss: Ich fahre heim.

Telefonate mit Lady C. klären die Situation. Verständlich, dass sie traurig ist über das plötzliche Ende der Tour, denn sie ist noch fit, möchte aber nicht allein weiter gehen. Doch kann sie meine Beweggründe nachvollziehen und hat auch keinen anderen, vielleicht sogar besseren Vorschlag.

trainline stellt mir über mehrere Länder eine Zugverbindung von Tirano nach Kassel zusammen und bucht mir auch noch alle notwendigen Tickets, die ich dann auf meinem mobiltel habe. Prima Service. Danke.

Der Chef der Residenz Stefania bringt mich morgen mit seinem Auto zur nächsten Bahnstation. Grazie. 2,5 Std. zu Fuß mit Rucksack dorthin sind derzeit von mir nur sehr schwer leistbar und würden mich schwächen.

Tag 49, 18.8.:


Ich bin auf der Heimfahrt. Auf den Bus nach Tirano warte ich an der Durchgangsstraße in Tresenda.

Tristesse in Tresenda


Bevor ich den Zug besteige, absolviere ich noch mal eben in Tirano einen Covid-Schnelltest: negativ bestanden.

Die Rhätische Bahn bringt mich mit dem langsamsten Schnellzug der Welt nach St. Moritz. Heute regnet es und ich habe nicht so eine gute Sicht während der Fahrt.

Ein Schnappschuss aus dem Zug auf die Reste des Morteratschgletschers in der Berninagruppe.

Und so sah er noch 2007 aus. (Quelle: de-academic.com)

Was passiert, wenn die Alpengletscher verschwinden … wird hier gut dargestellt.

Über Zürich und Basel geht es in insgesamt 11 Stunden und für rund 100€ nach Kassel. Ich kann aus dem Fenster schauen oder schlafen, die Füße bequem ausstrecken, umherlaufen oder während der Fahrt aufs Klo gehen. Welch ein Luxus zum günstigen Preis gegenüber den Blechkisten des Individualverkehrs. Notwendig sind sie für die letzten Kilometer, dort wo noch kein sinnvoll getakteter ÖPNV hinkommt und für Notfälle, aber sonst?

Zuhause werde ich mich erstmal weiter auskurieren und mich an meinen fotografierten und geschriebenen Erinnerungen erfreuen und sie anreichern.

Lady C. wird mit ihren Wanderfreunden, die sie in der Nähe von Innsbruck aufgesucht hat, auch nach Hause fahren. Allein in den Bergen laufen ist nicht ihr Ding.

Damit ist die Alpenwanderung Mitte für dieses Jahr beendet.

Bis zum Comer See stehen noch ca. 14 Etappen aus, die ins nächste Jahr verschoben werden. Es gibt sogar mindestens einen Vorteil: wir werden das Val di Mello und die Alta Via Valmalenco, beides Perlen auf dem Sentiero Italia, nicht in der Ferragosto-Zeit, sondern im Juli durchlaufen. Die Wege, Hütten, Hotspots und Park- und Picknickplätze werden noch leerer sein. Ich freu mich jetzt schon drauf, wenn ich nicht gerade huste oder mich schneuze.

5 Kommentare

  1. Monique Herzig
    19. August 2022
    Antworten

    Liebe Klaus, wie schade für Dich! Es ist aber besser oder viel mehr vernünftig und gesünder es so zu tun.
    Ich kann eine kleine Geschichte dazu beitragen zum Thema : was machen menchen in den Bergen, wenn sie krank sind……weiter. Mein Bruder hatte ein Freund der mitte im Jura ohne Anschluß gelebt hat. Eines Tages brach er sich das Bein. Er hat sich ein festen Verband mit Holzlatten konstruiert , hat sein seine Kühe und Tiere weiter versorgt, die Milch an der Strasse ( Km. weiter) jede 2 Tag statt jeden Tag abgestellt. Nach 2 Wochen hat er mein Bruder gefragt ,ob er mal seine Beine anschauen könnte… Er blieb 1 Woche zum Helfen.
    Na ja, irgentwann ist es verheilt und es ging weiter. Gestorben ist er ganz alleine, Wochen später gefunden worden. Seine Frau, ist irgendwann wo die Kinder 4J. war nach Genf gezogen!
    Tja, ich muß komischerweise oft an ihn denken .
    Klaus erhol Dich gut und ich freue mich, dass Du vernünftig warst:)
    L.G.
    Monique

    • 19. August 2022
      Antworten

      Liebe Monique,
      das ist ja wirklich eine wahrhaft berührende Geschichte, die innerlich nachhallt. Vor allem von einem Älpler der heutigen Zeit und nicht vor hundert oder zweihundert Jahren. Vielen Dank, liebe Monique.

  2. Felix
    25. August 2022
    Antworten

    Zu meiner Schande muss ich gestehen eure Abenteuer länger nicht verfolgt zu haben, die Auslastung durch meine eigene Tour ist deutlich zu hoch.

    Umso mehr stimmt es mich traurig, dass es dich so erwischt hat und du ultimativ gezwungen warst, die Tour frühzeitig zu beenden.

    Chapeau für deine positive Einstellung, gute Besserung und viel Freude mit den letzten Etappen, wann auch immer sie stattfinden werden.

  3. 6. September 2022
    Antworten

    Sehr rührende Geschichte.

    • 6. September 2022
      Antworten

      War nicht meine Absicht. Und gleichzeitig danke für die „Anteilnahme“.

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