Alta Via Valmalenco

Tag 0 – Donnerstag, 22. Juni:

Kassel: um 3:30 Uhr klingelt der Wecker ohne jegliche Einfühlung.

Nachdem ich den ersten Schock überwunden habe, dringen die ersten Küchen- und Badgeräusche an meine Ohren. Die sind mit neuen Hörgeräten ausgestattet. Ich pelle mich aus dem Bett. Erst jetzt wird mir bewusst, dass dieses Frühstück das letzte sein wird, das ich für lange Zeit in Kassel zu mir nehme.

Schon mit etwas Routine präparieren Lady C. und ich ihre Wohnung für die mehrmonatige Abwesenheit. Heizung ausschalten, Wasser abstellen, Tür des abgetauten Kühlschranks vor Verschließen sichern. Letzter Check, ob die wichtigsten Dinge eingepackt sind: Geld, Ausweise, mobiltel, Medikamente.

Ein kleiner Spaziergang zum Bahnhof weckt uns vollends. Die Fahrt nach Poschiavo klappt wie am Schnürchen.

Bahnfahrt: Kassel – Frankfurt – Olten – Zürich – Chur – St. Moritz – Poschiavo

Den Abschluß bildet die Fahrt mit dem BerninaExpress der Rhätischen Bahn, einem Weltkulturerbe und bautechnischen WegebauWunderwerk zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Enge Kurven, viele Tunnel und tolle Aussichten reihen sich bei geöffneten! Abteilfenstern aneinander und wecken trotz vorheriger zehnstündiger Bahnfahrt eine große Vorfreude.

Die Rucksäcke haben es gut – sie werden durch die Berge getragen.

In Poschiavo kaufen wir noch Käse und Bündner Fleisch im nah gelegenen Coop ein. Dann wartet das altehrwürdige Hotel Altavilla auf uns. Über eine uralte Steintreppe geht es drei Etagen hinauf in unser Zimmer. Erster bedeutender Anstieg!

Wir verbinden uns mit dem kabellosen lokalen Netzwerk. Sofort erreichen uns die Nachrichten von Freunden über das ungewöhnlich starke Unwetter, das über Kassel hergezogen ist und große Schäden angerichtet hat. Wir sind bestürzt aber auch erleichtert, dass keine Menschen zu Schaden gekommen sind. Übrig bleiben Sachschäden und erhebliche Aufräumarbeiten. Und gleichzeitig ist das alles ziemlich weit weg.

Oder doch nicht?
Auf einem Spaziergang durch Poschiavo entdecken wir Infotafeln über die gewaltige Überschwemmung, die 1987 den Ort teilweise zerlegte, ähnlich den Ereignissen im Ahrtal. Es gibt keine völlige Sicherheit, auch wenn sich viele diese wünschen.


Tag 1 – Freitag, 23. Juni:

Wieder der erbarmungslose Wecker, der uns um sechs Uhr weckt. Das Aufstehen fällt leichter, insbesondere wegen der Vorfreude. Ein ausgiebiges Frühstück stärkt uns für den Tag. Ich besorge mir noch am linken Unterarm eine Brandblase durch heißen Dampf, der unsichtbar aus dem Eierkocher aufsteigt. Sie wird mich noch lange begleiten.

Die Berninabahn bringt uns ein paar Kilo- und Höhenmeter aufwärts nach Cavaglia. Hier machen wir einen Abstecher in einen Gletschertöpfe-Park. Wir sind beeindruckt, was jahrtausendlanger Wasserschliff so herstellen kann. Bis zu 15 Meter tiefe Gletschertöpfe sind zu sehen und zu begehen.

Ab hier geht es a piedi weiter. Ein Fahrweg, der zu diversen Ferienhäusern (ehemalige Almen) und einigen wenigen noch aktiven Almen führt, hilft uns, den ersten Anstieg recht langweilig und gleichzeitig aussichtsreich zu überwinden.

Aussicht auf das Puschlav mit Poschiavo und dem gleichnamigen Lago di Poschiavo.

Nach ausgiebiger Mittagsrast wird der Weg schmaler und abwechsungsreicher, bis wir letztendlich um 18 Uhr den Passo Confinale (2622 Hm) erreichen. Wir freuen uns schon auf das Bivacco Rusconi.

Nach und nach trudeln noch weitere italienische Wandernde ein. Mit insgesamt 7 Personen haben wir einen unterhaltsamen Abend, essen gemeinsam Spaghetti und tauschen uns über kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten aus. Wir steigen früh etwas erschöpft in die Kojen. Der italienische Abend dauert noch etwas länger.

Tag 1 – Cavaglia -> Passo Confinale – 12,7 km – /1247 Hm – \281 Hm


Tag 2 – Samstag, 24. Juni:

Obwohl wir mit 7 Menschen in der kleinen Blechbüchse übernachtet haben, war es nicht stickig und nicht zu warm. Gleich um 6:30 Uhr nach dem Zusammenpacken machen wir uns erst mal auf den Weg in Richtung Rifugio Bignami. Schon die erste Aussicht auf die Südseite der Berninagruppe fasziniert.

Piz Argient (3943 Hm) und Piz Zupò (3996 Hm)

An einer schönen Stelle mit Aussicht rasten wir für Frühstück und Morgentoilette. Die bereits aus den Vorjahren bekannten Handgriffe und Reihenfolgen (erst Kaffee, dann Müsli, dann Tee) werden aus dem Hinterstübchen hervorgekramt und abgespult. Tiptop alles.

Auf dem Weiterweg passieren wir die noch teilweise intakte, die gut in die Landschaft eingebettete Alpe Gembre.

Im Spätsommer kann man hier seinen Käseproviant auffüllen.

Ab hier steigen wir quer in die Alta Via Valmalenco ein, eine ‚familienfreundliche‘ MehrtagesBergwanderung. Auch der Sentiero Italia, den wir bereits aus den Vorjahren kennen, integriert die Alta Via Valmalenco in seine Wegführung.

Wir dürfen die im rasanten Tempo schrumpfenden Reste des Fellaria-Gletschers bewundern, der für uns noch immer beeindruckend sind.

An seinem Fuß, den jetzt ein Gletschersee ziert, ist ein Lehrpfad zum Thema Gletscher eingerichtet. Er wird von italienischen Tageswandernden gern besucht.

Der Passo Fellaria (2819 Hm) ist unser nächstes Ziel. Der Anstieg ist moderat.

Nun noch ein bisschen bergab nach dem Pass, denken wir, und dann haben wir das Rifugio Carate erreicht. Denken wir.

Die Realität führt uns über sulzige Schneefelder in Abwechslung mit Blockgelände und das alles mal steil und weniger steil. Da ich keine Spuren entdecke, vermute ich, dass dieser Weg in diesem Frühsommer noch nicht begangen wurde. Ein letztes steiles, härteres Schneefeld lässt uns unsere Grödeln anziehen. So ist es sicherer.

Und jetzt noch ein kurzes Stück bis zum schon in Sichtweite befindlichen Rifugio Carate Brianza, denken wir. Weit gefehlt.

Der zwar gut markierte, ansonsten naturbelassene Weg durchs Blockgelände fordert nochmal viel Aufmerksamkeit und wir erreichen um 18 Uhr die Hütte. Wem auch immer sei Dank, dass wir es ohne große Blessuren geschafft haben. Lady C. ist erschöpft und wir beschließen, morgen eine weitere kurze Etappe einzulegen.

Tag 2 – Passo Confinale – Rifugio Carate Brianza – 9,1 km – /753 Hm – \767 Hm


Tag 3 – Sonntag, 25. Juni:

Kein Wecker. 8 Uhr Frühstück. 10 Uhr Start. Ganz gemächlich und entspannt laufen wir los.

Rifugio Carate Brianza (2636 Hm)

Noch ein Blick auf das Rifugio Carate Brianza. Danke für die Beherbung.

Gleich hinter der nächsten Ecke bekommen wir einen Blick auf die Südseite des Piz Roseg. Schon beeindruckend.

Den Lago de Musello mit seinen Eisschollen passieren wir …

… auf dem Weg zum Rifugio Marinelli Bombardieri auf 2813 Hm.

Nur zwei Wanderstunden und wir haben unser Tagewerk erledigt. Jetzt heißt es Genießen und Nichtstun. Eine Mittagsportion Pizzoccheri trägt zur Entspannung bei.

Wir beobachten italienische Berg- und Hüttenkultur mit Ausblick auf die Musella-Gruppe …

… erfreuen uns an den Steinböcken, die sich in Hüttennähe aufhalten …

… und genießen die wunderbare Aussicht auf die Südseite der Berninagruppe. Ein abfotografiertes, beschriftetes Panorama hilft bei der Zuordnung der Namen zu den Bergen.

Tag 3 – Rifugio Carate Brianza – Rifugio Marinelli – 2,8 km – /272 Hm – \98 Hm


Tag 4 – Montag, 26. Juni:


Wir haben nicht das ‚Alpinistenfrühstück‘ um 4 Uhr gewählt, sondern uns für das ‚Touristenfrühstück‘ um 7 Uhr entschieden.

Eigentlich ist diese grandios gelegene Hütte noch in Vorbereitung der eigentlichen Sommersaison, denn wir waren nur vier Übernachtungsgäste. Der eigentliche Gästeansturm kommt Anfang Juli mit max. 150 Übernachtungsgästen pro Tag plus Tagesgäste. Viel Arbeit für das Sechserteam.

Für uns geht es um 8 Uhr los. Zunächst steil abwärts zum Scerscen-Gletschergrund. Wenn ich bedenke, dass vor 50 Jahren bis  hier unten noch das Eis des Gletschers reichte …

Wir steigen blockig auf zur Forcella d’Entova (2833 Hm).

Eigentlich will ich im Lago d’Entova baden … ist nicht möglich.

Der Abstieg führt uns mal wieder über sulzige Schneefelder.

Aus der Nähe ist der vereiste See noch beeindruckender.

Wir haben noch eine gute Strecke und tolle Landschaft unter unsere Schuhe zu bringen. Hinter dem Gebirgskamm liegt bereits Maloja in der Schweiz.

Erst um 18:30 Uhr erreichen wir das Rifugio Longoni (2450 Hm).

Hier geht es Schlag auf Schlag: Bettenzuweisung im Dormitori, Katzenwäsche am Kaltwasserwaschbecken, Essensauswahl für Primo und Secondo. Und zack sitzen wir mit ca. zehn anderen Gästen am Abendessentisch, trinken Wasser und Wein, essen Minestrone, Pasta, Braten mit Gemüse, Carpaccio mit eingelegten Pilzen und Pudding.

Die entsprechende Bettschwere überkommt uns schnell. Um 22 Uhr liegen wir glücklich in der Koje.

Tag 4 – Rifugio Marinelli – Rifugio Longoni – 12,8 km – /895 Hm – \1257 Hm


Tag 5 – Dienstag, 27.06.:

Unser heutiges Ziel ist nur ein paar Stunden entfernt und führt uns durch Chiareggio, einem kleinen Bergdorf, das im oberen Valmalenco liegt.

Wir laufen stets im Angesicht des Monte Disgrazie (3678 Hm), einem einzeln stehenden mächtigen Berg, mit einem recht unglücklichen Namen.

Hier entdecken wir auch den Ursprung der Idee für ein Kunstwerk der documenta („Landschaft im Dia“), das permanent auf dem Friedrichsplatz ausgestellt ist. Hier bildet des den Rahmen für den Monte Disgrazia (3678 Hm).

Monte Disgrazia im Rahmen – Italien – Valmalenco
Landschaft im Dia – Kassel – Friedrichsplatz

Ich vermute, dass auch die Idee der kleinen runden Bunker, die zu Tausenden in Albaniens Landschaft platziert sind, aus dieser Gegend stammt. Der hiesige Prototyp sieht den albanischen Bunkern schon sehr ähnlich.

Manchmal treffen wir auf Steine mit besonderen faszinierenden Mustern.

Chiareggio liegt verträumt am Talende im Valmalenco. Einst war der Ort für Säumer ein Etappenhaltepunkt im Valmalenco zwischen Graubünden bzw. Valtellina und dem Engadin. Hinter der Bergkette befinden sich bereits Maloja, Silser See, etc., – eben die Schweiz.

Wir kaufen regionalen Kuh- und Ziegenkäse im Alimentari …

… sitzen über die Mittagszeit in der Dorfbar (nix los) und machen uns dann auf ins Val Ventina zum gleichnamigen Refugio.

Der Weg ist kurz und uninteressant.

Der Talabschluss dagegen ist wunderschön.

Man kann hier gut beobachten, wie sich die Pflanzen in der vom Gletscherschwund übrig gebliebenen Steinwüste ausbreiten. Auf der ehemaligen Ausbreitungsfläche des Ventina-Gletschers entsteht ganz allmählich ein karger, natürlicher Wald.

Sowohl Tal wie auch das Rifugio Ventina (1970 Hm) sind mir schon bekannt. Im September 2011 war ich mit Freunden auf einer Bergwanderung durch das Bergell hier. Schöne Erinnerungen sind damit verknüpft und steigen wie Bläschen im Prosecco auf.

Heute sind wir die einzigen Übernachtungsgäste. Wir haben genügend Zeit zum Wäschewaschen und zur Körper- und Schuhpflege, bevor wir mit einem Abendessen verwöhnt werden. Für morgen können wir ein paar zusätzliche Energiekörner gut gebrauchen …

Tag 5 – Rifugio Longoni – Rifugio Ventina – 9,3 km – /436 Hm – \907 Hm


Tag 6 – Mittwoch, 28. Juni:

Alles ist wieder wohlgeordnet: die Wäsche gewaschen, der Körper geduscht und mit Essensenergie aufgefrischt, der Geist erholt und aufmerksam.

Mit einem Foto zum Abschluss, genau wie vor 12 Jahren, und einer vagen Vereinbarung, in 10 Jahren wieder zu kommen, verabschieden wir uns herzlich vom Hüttenwirt.

heute
vor 12 Jahren

Der Passo Ventina (2676 Hm) wartet auf uns.

Nicht nur für Wandernde auf der Alta Via Malenco ist er mit seiner Steilheit und Blockigkeit eine Herausforderung. Einmal im Jahr findet hier der VUT (Valmenco Ultradistance Trail) statt. Dann wird der Pass nachts von Hunderten Trailrunnern überquert. Daher finden wir häufig auf den Steinen aufgeklebte reflektierende Markierungen, die für die Laufenden mit Stirnlampe gut sichtbar Orientierung bieten.

Sogar in dieser Block- und Schotterwüste finden kleinste Pflanzen noch ihre Nischen …

Rundblättriges Hellerkraut

Alpen-Leinkraut

Alpen-Hornkraut

Die Idee des GuerrillaSchotterGardening wird auf dem langen Anstieg entwickelt: Samen von Pflanzen, die sich gut und gern in Steinwelten ausbreiten, werden im Vorbeigehen in die Schottergärten der EigenheimUngetümer geworfen, in der Hoffnung, dass der Schottergarten langfristig überwuchert wird.

Am Passo Ventina (2676 Hm), quetschen wir uns an den letzten Schneeresten vorbei.

Den  Abstieg absolvieren wir durch eine  blockige Mondlandschaft.

Um ca. 17 Uhr erreichen wir die Alpe Giumelllino.

Es sind noch ca. drei Stunden bis zum Rifugio Bosio Galli, unserem heutigen Ziel. Wir kämen erst nach 20 Uhr dort an.

Am nächsten Tag hätten wir eine ähnlich knackige Tour vor uns. Und am übernächsten Tag soll es den ganzen Tag regnen. Wir würden also in einer Berghütte oder einem Bivacco festsitzen.

Wir passen unseren Plan an: wir bleiben hier auf der Alpe Guimellino …

… und lassen den Abend mit SpaghettiKochen, ZeltAufbau und -Einrichtung und PlanUmschmieden ausklingen.

Morgen sehen wir, wie es weitergeht.

Tag 6 – Rifugio Ventina – Alpe Giumellino – 6,4 km – /792 Hm – \983 Hm

4 Kommentare

  1. 1. Juli 2023
    Antworten

    Hallo Ihr beiden,
    schön zu lesen, dass der Start eurer langen Wandertour so spannend und ohne Probleme verlief.
    Die Fotos und Geschichten machen Lust auf mehr. Schön, dass ihr uns mitnehmt. Weiterhin alles Gute.
    Elke und Jörg

    • 3. Juli 2023
      Antworten

      Hey Ihr Beiden, danke für Euren Kommentar. Wir waren gerade im Lago Mezzola schwimmen. Habt Ihr Lust, in echt mal mit und gemeinsam ein paar Tage durch die Berge zu streifen.

  2. Christian
    2. Juli 2023
    Antworten

    Es ist immer wieder schön Deinem Blog zu folgen! und
    man braucht sich gar nicht zu bewegen.
    Ich bin gerade in Köln, David besuchen und heute Abend muss ich mich dann mit unserem zerhagelten Zuhause konfrontieren.
    Grüße an LadyC! + EINEN GUTEN WEG!
    PS: Im letzten Drittel stimmt irgendwas mit einem/mehreren Fotos nicht.

    • 3. Juli 2023
      Antworten

      Danke für deinen Hinweis, Christian. Stimmt, es war etwas unklar ausgedrückt. Hab noch nochmal gecheckt und angepasst.
      Wir waren gerade im Lago Mezzola schwimmen. Richtig erfrischend.

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